Sitzung vom 28. Januar 2021

Dekretentwurf zur Abänderung und Aufhebung verschiedener Bestimmungen im Bereich der Enteignungen

1. Beschlussfassung:

Die Regierung verabschiedet in zweiter und letzter Lesung den Dekretentwurf zur Abänderung und Aufhebung verschiedener Bestimmungen im Bereich der Enteignungen.

Der Vize-Ministerpräsident, Minister für Gesundheit und Soziales, Raumordnung und Wohnungswesen, wird beauftragt, den Entwurf im Parlament zu hinterlegen.

2. Erläuterungen:

Durch das Dekret vom 22. November 2018 über das Enteignungsverfahren (hiernach: „das Dekret vom 22. November 2018“) vollzog die Wallonische Region eine tiefgreifende Modernisierung des Enteignungsrechts zum Nutzen der Allgemeinheit. Die Reform bezog sich sowohl auf die administrative wie auch auf die gerichtliche Phase der Enteignung.

Die gerichtliche Phase der Enteignung war vor dem Inkrafttreten der Sechsten Staatsreform eine Zuständigkeit des Föderalstaats. Dieser Teil der Enteignung musste gemäß den föderalen Bestimmungen erfolgen, wie beispielsweise dem Gesetz vom 26. Juli 1962 über das Verfahren bei höchster Dringlichkeit in Bezug auf die Enteignung zum Nutzen der Allgemeinheit. Durch das Sondergesetz vom 6. Januar 2014 wurde ein Artikel 6quater in das Sondergesetz vom 8. August 1980 zur Reform der Institutionen eingefügt, der besagt, dass fortan die Regionen für die Festlegung der gerichtlichen Phase der Enteignung zuständig sind, mit Ausnahme der Enteignungen, die durch die Föderalbehörde oder der von ihr abhängigen Behörden vorgenommen werden. Diese neue Zuständigkeit nahm die Wallonische Region wahr, indem sie in Kapitel III des Dekrets vom 22. November 2018 die neuen Bestimmungen für die gerichtliche Phase der Enteignung festlegte und die ehemals föderale Gesetzgebung aufhob. Diese Bestimmungen sind seit dem 1. Juli 2019, Datum des Inkrafttretens des besagten Dekrets, auch anwendbar für alle Enteignungen, die durch die Deutschsprachige Gemeinschaft oder eine von ihr abhängige Behörde vorgenommen werden. Gleiches gilt im Übrigen für die Französische Gemeinschaft.

Was die administrative Phase der Enteignung betrifft, so sieht Artikel 79 des Sondergesetzes vom 8. August 1980 zur Reform der Institutionen bereits seit Jahrzehnten vor, dass die Gemeinschaften und Regionen im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten Enteignungen vornehmen und hierfür entsprechende Regeln festlegen dürfen. Während in manchen Rechtstexten eine allgemeine Ermächtigung zur Enteignung vorgesehen wird (wie beispielsweise das Dekret vom 9. November 1987 bezüglich der von der Exekutive der Deutschsprachigen Gemeinschaft vorgenommenen oder genehmigten Enteignungen im öffentlichen Interesse), führen andere Rechtstexte wiederum besondere Verfahrensfragen ein, die im Rahmen einer Enteignung einzuhalten sind (wie beispielsweise die Artikel 14 und 33 des Dekrets vom 23. Juni 2008 über den Schutz der Denkmäler, Kleindenkmäler, Ensembles und historischen Kulturlandschaften sowie über die Ausgrabungen).

Auch auf Ebene der Wallonischen Region gab es in einzelnen Gesetzgebungen unterschiedliche Verfahren, die jeweils eine besondere Ausprägung der administrativen Phase der Enteignung bildeten. Dies betraf mitunter (und insbesondere) die Bereiche Raumordnung, Gemeindewege oder Gewerbegebiete. Anlässlich der genannten Reform wurde die administrative Phase der Enteignung vereinheitlicht und die einzelnen Bestimmungen in den unterschiedlichen Gesetzgebungen der Wallonischen Region aufgehoben; so auch in den genannten Bereichen. Anders als bei der gerichtlichen Phase sind die Bestimmungen des Kapitels II des Dekrets vom 22. November 2018, die seit dem 1. Juli 2019 die allgemeingültige administrative Phase in der Wallonischen Region darstellen, nicht auf die Deutschsprachige oder Französische Gemeinschaft anwendbar.

Durch die Übertragung der Zuständigkeiten Raumordnung, Gemeindewege und Gewerbegebiete aufgrund von Artikel 139 der Verfassung ändert sich diese Situation in tiefgreifender Weise. Seit dem Inkrafttreten der gleichlautenden Dekrete vom 29. April und 6. Mai 2019 über die Ausübung der Zuständigkeiten der Wallonischen Region im Bereich der Raumordnung und gewisser verbundener Bereiche durch die Deutschsprachige Gemeinschaft am 1. Januar 2020 hat sich das Zuständigkeitsgefüge wiederum weiterentwickelt.

Was die gerichtliche Phase betrifft, so wird die Ausübung dieser Zuständigkeit der Wallonischen Region ausdrücklich durch Artikel 1 Absatz 1 Nummer 3 der gleichlautenden Dekrete vom 29. April und 6. Mai 2019 an die Deutschsprachige Gemeinschaft übertragen. Dies bedeutet demnach, dass die Deutschsprachige Gemeinschaft die Bestimmungen von Kapitel III des Dekrets vom 22. November 2018 auf ihre Bedürfnisse anpassen kann. Dies bedeutet aber ebenfalls, dass künftig die Wallonische Region und die von ihr abhängigen Behörden den Regeln der Deutschsprachigen Gemeinschaft unterliegen, wenn eine Enteignung im Rahmen einer (nicht übertragenen) regionalen Zuständigkeit – wie beispielsweise Wasser, Umwelt, Landwirtschaft, … – vorgenommen werden soll. Aufgrund von Artikel 6quater des Sondergesetzes vom 8. August 1980 gelten dagegen für die Enteignungen in Angelegenheiten des Föderalstaats – wie beispielsweise Eisenbahnverkehr – nach wie vor die föderalen Regeln der gerichtlichen Phase.

Die administrative Phase der durch die Deutschsprachige Gemeinschaft oder die von ihr abhängigen Behörden vorgenommenen Enteignungen wird hingegen durch die Zuständigkeitsübertragung komplexer gestaltet. Je nachdem, welche Zuständigkeit betroffen ist, sind unterschiedliche Rechtsgrundlagen anwendbar:

  • Reine Gemeinschaftszuständigkeiten (Artikel 130 der Verfassung): In Abwesenheit anders lautender Bestimmungen bleibt für Enteignungen vor diesem Hintergrund das Dekret vom 9. November 1987 bezüglich der von der Exekutive der Deutschsprachigen Gemeinschaft vorgenommenen oder genehmigten Enteignungen im öffentlichen Interesse anwendbar.
  • Vor dem 1. Januar 2020 übertragene Regionalzuständigkeiten (Artikel 139 der Verfassung): Diese Enteignungen fallen nicht in den Anwendungsbereich der allgemeinen Regelung des Dekrets vom 9. November 1987. Es gelten also die jeweiligen besonderen Bestimmungen in den einzelnen Grundlagengesetzgebungen. Dies ist beispielsweise der Fall, für den Bereich Denkmalschutz, im Dekret vom 23. Juni 2008 über den Schutz der Denkmäler, Kleindenkmäler, Ensembles und historischen Kulturlandschaften sowie über die Ausgrabungen.
  • Nach dem 1. Januar 2020 übertragene Regionalzuständigkeiten (Artikel 139 der Verfassung): Diese Enteignungen fallen ebenfalls nicht in den Anwendungsbereich der allgemeinen Regelung des Dekrets vom 9. November 1987. Für Enteignungen in diesem Zusammenhang gibt es infolge der Reform des Wallonischen Dekretgebers jedoch auch keine besonderen Bestimmungen mehr in den Grundlagegengesetzgebungen im Bereich Raumordnung, Gemeindewege oder Gewerbegebiete. Rechtsgrundlage für diese Arten der Enteignung ist somit die allgemeine Regelung in Kapitel II des Dekrets vom 22. November 2018.

Bei unveränderter Sachlage sind somit bei den Enteignungen durch die Deutschsprachige Gemeinschaft, je nach Fall, drei unterschiedliche Rechtsgrundlagen anzuwenden. Angesichts dieser kafkaesken Situation ist es also zweifellos im Sinne der Kohärenz und der Rechtssicherheit, eine Rationalisierung und Vereinfachung der anwendbaren Regeln vorzunehmen.

Es wird demnach vorgeschlagen, den von der Wallonischen Region gezeichneten Weg auf Ebene der Deutschsprachigen Gemeinschaft fortzuführen. Dies würde bedeuten, dass man ebenfalls eine einheitliche administrative Phase der Enteignung – ungeachtet des betroffenen Befugnisbereichs – einführt. Konkret hieße dies, dass das Dekret vom 9. November 1987 bezüglich der von der Exekutive der Deutschsprachigen Gemeinschaft vorgenommenen oder genehmigten Enteignungen im öffentlichen Interesse (in seiner Gänze) sowie die einschlägigen Bestimmungen des Dekrets vom 23. Juni 2008 über den Schutz der Denkmäler, Kleindenkmäler, Ensembles und historischen Kulturlandschaften sowie über die Ausgrabungen aufzuheben wären. Anwendbar wäre somit auch im deutschen Sprachgebiet – zumindest übergangsweise – allein Kapitel II des Dekrets vom 22. November 2018. Um jeglicher missverständlicher Auslegung vorzubeugen, wird empfohlen, diesen Grundsatz ausdrücklich in dem Dekret vom 22. November 2018 vorzusehen.

In seinem Gutachten 68.356/4 vom 6. Januar 2021 hat sich der Staatsrat mit der Frage nach der Zuständigkeit der Deutschsprachigen Gemeinschaft, die Bestimmungen des Dekrets der Wallonischen Region vom 22. November 2018 über das Enteignungsverfahren abzuändern, auseinandergesetzt. Nach eingehender Analyse wird festgestellt, dass einerseits aufgrund des Artikel 79 §1 des Sondergesetzes vom 8. August 1980 zur Reform der Institutionen und andererseits aufgrund von Artikel 6quater desselben Sondergesetzes, dessen Ausübung im deutschen Sprachgebiet durch die Übertragungsdekrete vom 29. April und 6. Mai 2019 der Deutschsprachigen Gemeinschaft zufällt, die Deutschsprachige Gemeinschaft in der Tat befugt ist, alle Kapitel des besagten Dekrets vom 22. November 2018 (einseitig) abzuändern.

3. Finanzielle Auswirkungen:

Es entstehen keine Kosten für die Deutschsprachige Gemeinschaft.

4. Gutachten:

Das Gutachten des Staatsrates 68.356/4 vom 6. Januar 2021 liegt vor.

5. Rechtsgrundlage:

  • Artikel 139 der Verfassung
  • Sondergesetz vom 8. August 1980 zur Reform der Institutionen, Artikel 6quater und 79
  • Gesetz vom 31. Dezember 1983 über institutionelle Reformen für die Deutschsprachige Gemeinschaft, Artikel 51
  • Dekrete vom 29. April und 6. Mai 2019 über die Ausübung der Zuständigkeiten der Wallonischen Region im Bereich der Raumordnung und gewisser verbundener Bereiche durch die Deutschsprachige Gemeinschaft, Artikel 1 Absatz 1 Nummer 3